Mit dem Begriff „Stoffdaten“ sind in diesem Beitrag physikalische und chemische Daten reiner Stoffe gemeint. Mit dem Begriff „berechnen“ meine ich nicht das einfache Ausrechnen von Lösungsvolumina, Konzentrationen oder Partialdrücken, wenn alle für die Berechnung notwendigen Daten bekannt sind. Hierfür gibt es zahlreiche Tools und Apps, welche im Grunde überflüssig sind: Den Chemiker/innen sind die Berechnungen gründlichst einge(t)rieben worden, und der Chemie Unkundige wissen gelegentlich nicht mal, was sie in die einzelnen Felder einsetzen sollen, vor allem wenn das Tool nicht gut dokumentiert ist.
Gemeint ist statt dessen die Voraussage von Stoffeigenschaften durch Interpolation oder durch Modellrechnungen, z. B. der Wasser-Oktan-Verteilungskoeffizient, die Henry-Konstante oder Fest- und Siedepunkte. Solche Berechnungen sind immer mit gewissen Unsicherheiten behaftet. Besonders abenteuerlich ist das natürlich bei Stoffen, die noch nicht synthetisiert wurden. Wie zuverlässig oder unzuverlässig solche Berechnungen sind, wollen wir in diesem Beitrag anhand einiger Beispiele betrachten.
Ein schlechtes Beispiel: Der kinetische Durchmesser
Kinetische Durchmesser von Molekülen werden vor allem für die Vorhersage von Adsorptions- und Diffusionsvorgängen benötigt. Ein Vergleich zwischen berechneten und gemessenen Moleküldurchmessern wurde in diesem Blog schon vorgelegt. Dabei wurden auf Messungen beruhende kinetische Durchmesser mit solchen verglichen, die auf „Baukastenbasis“ ermittelt wurden, also durch das Ausmessen eines Molekülmodells.
Die Ergebnisse sind nicht durchweg schlecht, aber sie schwanken stark in ihrer Genauigkeit. Das macht Berechnungen sehr unzuverlässig.
- Vor allem kleine, starre Moleküle wie Methan und CO2 kommen nach dem Baukastenmodell als deutlich zu groß heraus.
- Lineare Moleküle wie n-Heptan oder n-Decan erhalten (bedingt durch die Stirnansicht des molekularen „Wurmes“) alle den gleichen kinetischen Durchmesser, obwohl sie sich in der Praxis nicht gleich verhalten.
- Der kinetische Durchmesser verzweigter, sterisch gehinderter Moleküle, wie 1,3,5-Tri(isopropyl)benzol, kann dagegen recht gut vorausgesagt werden.
Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient KOW
Der Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient KOW [1] gibt an, wie sich eine Chemikalie im Zweiphasensystem Octanol/Wasser verteilt. Lipophile Substanzen, die sich überwiegend im Octanol befinden, haben einen großen KOW, hydrophile Substanzen, die sich überwiegend im Wasser wiederfinden, haben einen KOW deutlich unter 1 (in logarithmierter Form also negative Werte).
Der Wert ist nicht nur in der Pharmakologie bedeutend, sondern in allen Bereichen, in denen es auf die Löslichkeit molekularer Verbindungen ankommt. Es gibt relativ viele Tools, die ihn berechnen. Zwei davon – KOWWIN und molinspiration – stellen sich in der Tabelle dem Vergleich mit gemessenen Literaturdaten.
- KOWWIN ist ein Bestandteil der EPIWIN-Suite, welche man sich kostenlos von der Website der EPA herunterladen kann
- molinspiration ist ein Online-Tool, zur Verfügung gestellt von der slowakischen Firma molinspiration Chemoinformatics, ein Spin-off der Universität Bratislava.
Beide Tools berechnen noch weitere Werte, der Input erfolgt über einen Moleküleditor oder über SMILES.
Verbindung | log KOW (molinspiration) | log KOW (KOWWIN) | log KOW (Literaturdaten) |
Acetamid | -0,916 | – 1,16 | -1,155 [2] -1,26 [3] |
Methanol | -0,32 | -0,63 | -0,824 [2] -0,77 [3] |
Ameisensäure | -0,512 | -0,46 | -0,413 [2] -0,54 [3] |
Diethylether | 1,049 | 1,05 | 0,833 [2] 0,89 [3] |
p-Dichlorbenzol | 3,293 | 3,28 | 3,370 [2] 3,44 [3] |
Hexamethylbenzol | 4,341 | 5,28 | 4,610 [2] 5,11 [3] |
Wiederum gilt: Die Übereinstimmung der Werte ist nicht immer schlecht, sondern nur manchmal – und das macht beide Tools nur wenig brauchbar. Einer der Gründe für die Abweichungen ist auf jeden Fall darin zu suchen, dass bei den Berechnungen die Temperatur nicht berücksichtigt wird, den Wert jedoch beeinflusst.
Zudem stimmen die Literaturwerte auch nicht gut überein: Eigentlich überraschend, weil es sich um einen einfachen Versuch handelt – einwiegen, einmal ausschütteln, stehenlassen und beide Phasen (oder auch nur eine) quantitativ bestimmen – aber der Teufel steckt wahrscheinlich im Detail: Nicht ganz vollständige Phasentrennungen, Erwärmung während des Extraktionsvorganges, je nach Probenvolumen und -behälter vielleicht auch Adsorption an der Behälterwand und andere Effekte führen zu den Abweichungen.
Ein fiktives Anwendungsbeispiel
Welche Auswirkungen die Abweichungen haben, sei an einem fiktiven Beispiel erklärt: Sie wollen eine Extraktionsanlage planen, mit welcher z. B. Methanol aus Wasser in Octanol überführt werden soll (Sie hätten zwar bei dem Beispiel ziemliche Probleme mit der Phasentrennung, aber es soll auch nur ein rechnerisches Beispiel sein). Sie beginnen mit 1 mol/l Methanol in Wasser und extrahieren fünf Mal mit dem gleichen Volumen Octanol. Der niedrigere der errechneten log(KOW) ist -0,32, der höhere -0,64.
Der Einfluss der scheinbar nur „leicht unterschiedlichen“ Werte wird hier deutlich: mit dem besseren KOW ist man nach nur zwei Extraktionen bei dem Ergebnis angelangt, für das es mit dem schlechteren KOW vier Extraktionsvorgänge benötigt. Ein ziemlich ernüchterndes Fazit – solche Daten sind nur als allergröbste Idee geeignet, aber nicht einmal zur Vorplanung.
Im nächsten Teil: Dampfdruckkurven und Zustandsgleichungen realer Gase – wie genau sind die Ergebnisse?
[1] oft auch als P bezeichnet, oder logarithmiert angegeben als log KOW
[2] Literaturquellen für die KOW-Daten nach Wikipedia
[3] Literatur in KOWWIN angegeben
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