Stoffströme bei einer Synthese – Problemstellung
Eine im Labor entwickelte Synthesevorschrift lag jahrelang “in der Schublade”, ehe sie im Technikumsmaßstab umgesetzt werden sollte. Abgesehen von der niedergeschriebenen Laborvorschrift waren (u. a. durch Personalwechsel) die meisten zusätzlichen Informationen zwischenzeitlich verlorengegangen.
Diese zusätzlichen Eigenschaften betrafen Stoffdaten wie Wasserlöslichkeit, Gefahrstoffdaten, Exothermien, Reactive Hazards und anderes, was zur Planung des neu zu errichtenden Technikums unbedingt bekannt sein musste.
Was der Kunde wollte
- Ohne Laborversuche zunächst zu einer Einschätzung über die Kosten und die grundlegenden Elemente der Anlage zu kommen.
- Die Grundlagen für eine frühzeitige Sicherheitsbetrachtung zu erhalten.
- Möglichst viele der für die Planung benötigten Informationen auf theoretischem Wege zusammentragen, um die Zahl der noch notwendigen Vorversuche einzugrenzen.
Was der Kunde nicht wollte
- Literaturbekannte oder errechenbare Daten in monatelanger Arbeit experimentell ermitteln.
- Selbst recherchieren, berechnen, intepretieren, zusammenstellen.
Verlauf und Ergebnis
Die Planer des Technikums beauftragten mich, die auftretenden Stoffströme, Temperaturen, Enthalpien, pH-Werte, Salinitäten etc. für jeden der Schritte zu berechnen und anzugeben, wo Scale-up-Probleme und Gefährdungspotentiale abzusehen seien.
Im Folgenden ein kurzer Auszug aus dem Ergebnis. Es handelt sich um einen kleinen Ausschnitt aus der umfangreichen Vorschrift zur Versuchsdurchführung im 100 lt-Reaktor, mit besonderem Hinweis auf noch zu erfassenden Daten, und Hinweisen zur apparativen Ausstattung der Anlage. Aus Vertraulichkeitsgründen handelt es sich nicht wirklich um die betrachtete Synthese, der Reaktionstyp ist jedoch der gleiche: Umsetzung einer heteroaromatischen Carbonsäure mit einem Chlorierungsreagenz und anschließende Alkoholyse zum Ester.
Die obenstehende Reaktionsgleichung ist eine einzelne Stufe aus einer vielstufigen, in einer multi-purpose-Anlage durchzuführenden Synthese. Sie stellt die Umsetzung von Pyridin-2,6-dicarbonsäure in zwei Stufen, jedoch ohne dazwischenliegende Isolierung, zunächst zum entsprechenden Säurechlorid, danach zum Dimethylester dar. Die Arbeit mit Säurechloriden ist wegen deren hoher Wasserempfindlichkeit und der relativ hohen Exothermien nicht ganz einfach.
Physikalische Eigenschaften der Reaktanden, Zwischenstufen und Endprodukte
Quellen: I. Barin, “Thermochemical Data of Pure Substances”, Part I + II, VCH Weinheim, 1989; Sicherheitsdatenblätter der Hersteller zu den verwendeten Substanzen; G. H. Aylwart, T. J. V. Findlay “Datensammlung Chemie in SI-Einheiten”, 3. Aufl. VCH Weinheim 1999; u.v.a.
Einige Daten konnten nicht gefunden werden und wurden von ähnlichen Systemen extrapoliert, oder nach thermodynamischen Berechnungsmethoden bestimmt. Solche Werte sind kursiv dargestellt und müssen vor der Detailplanung unbedingt noch bestimmt werden.
Stoff | Pyridin-2,6- dicarbonsäure | Thionylchlorid | Pyridin-2,6-icarbonyl- chlorid | Methanol | Pyridin-2,6- dicarbonsäure- dimethylester |
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Summenformel | C7H5NO4 | SOCl2 | C7H3Cl2NO2 | CH4O | C9H9NO4 |
Dichte | 700 g/dm³ (Schüttgewicht) | 1,64 g/cm³ [20 °C] | 0,79 g/cm³ [20 °C] | ~ 650 g/dm³ (Schüttgewicht) | |
Aussehen | Feinkristallines, weißes, fast geruchloses Pulver | gelbliche Flüssigkeit, stechender Geruch | beigefarbener Feststoff | klare Flüssigkeit mit charakteristischem Geruch | weißes Pulver oder Kristalle |
Gefährlichkeits | reizend | gesundheits | ätzend, korrosiv, tränenreizend | leichtentzündlich, giftig | reizend |
Schmelzpunkt | 224 - 225 °C | - 104 °C | 56 - 58 °C | - 98 °C | 121 - 125 °C (rein) |
Siedepunkt | Zersetzung | 76 °C [1013 mbar] | 284 °C [1013 mbar] | 64,5 °C [1013 mbar] | |
Dampfdruck | <0,01 mbar [20 °C] | 417 hPa [50 °C] | < 1 mbar an völlig trockener Luft, sonst Freisetzung von HCl | 532 mbar [50 °C] | < 1 mbar |
Thermische Zersetzung | > 230 °C | > 140 °C | > 140 °C | > 250 °C | |
Flammpunkt | 188 °C | 15,6 °C | |||
Zündtemp. | 620 °C | 455 °C | |||
Löslichkeit in Wasser | 5 g/l [20 °C], ergibt eine Lösung von pH = 2,0 | Zersetzung zu Salzsäure und Schwefliger Säure. 10 g/l Wasser ergeben eine Lösung von pH = 0,8 | Zersetzung zu Pyridin-2,6- dicarbonsäure- Hydrochlorid und Salzsäure. | vollständig wassermischbar | < 1 g/l |
WGK | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 |
Toxikologie | LD50 oral, Ratte 10500 mg/kg | LD50 oral, Ratte 324 mg/kg | nicht untersucht | LD50 oral, Ratte 5628 mg/kg | nicht untersucht (könnte wegen des verminderten first-pass-Effektes von Estern deutlich toxischer sein als die freie Carbonsäure) |
Explosions | 7,3 - 44 Vol% |
Laborvorschrift
167 g (1 mol) Pyridin-2,6-dicarbonsäure werden in 1.075 ml Thionylchlorid gelöst und 10 h unter Rückfluss gehalten. Danach wird der Überschuss Thionylchlorid abdestilliert und der Rückstand unter Eiskühlung tropfenweise mit 250 ml Methanol hydrolysiert. Die Mischung wird für 30 min unter Rückfluss gehalten und danach 150 ml Methanol abdestilliert. Nach dem Eiskühlen kristallisiert Pyridin-2,6-dicarbonsäure-dimethylester aus. Umsatz: 95 % d. Th. Dieser wird mit eiskaltem Methanol nachgewaschen und ggf. aus Methanol umkristallisiert.
Material der Anlage
Für diese Umsetzung kam Stahl nicht in Frage. Einige Standardkomponenten (z. B. Rührwellen) der weitestgehend in Glas ausgeführten Anlage mussten daher ausgetauscht werden. (…)
Emissionen, Abluft
Zu erwarten sind hier hauptsächlich Methanol, Thionylchlorid, SO2 und HCl. Alle diese Substanzen können in den vorhandenen wässrigen Abluftwäscher geleitet werden, der pH-Wert wird sich zu sauren Werten hin verschieben. Es ist jedoch zu beachten, dass Thionylchlorid, SO2 und HCl stark hygroskopisch sind, so dass sich bei Kontakt mit Wasser oder feuchter Luft sogar Unterdrücke bilden können. Ein Rückschlagen von Wasser, Aerosolen bzw. feuchter Luft aus dem Wäscher zurück in die Abluftleitung muss apparativ ausgeschlossen werden. Zu erwartende Mengen und pH-Werte: (…)
Umsetzung – Grundlagen für das Scale-Up
- Zielgröße: 10 kg Pyridin-2,6-dicarbonsäure-dimethylester (51,23 mol)
- Einsatzstoffe: 9 kg Pyridin-2,6-dicarbonsäure, 58 lt Thionylchlorid, 13,5 lt Methanol
- 1. Schritt: Auflösen von Pyridin-2,6-dicarbonsäure in Thionylchlorid im unter Stickstoff getrockneten Reaktor. Zur Zugabe der Dicarbonsäure kann der Reaktor am Handloch kurz geöffnet werden (eine spezielle Feststoffzugabevorrichtung war nicht vorgesehen), das Thionylchlorid wird mit Stickstoff aus dem Fass herübergedrückt.
- Vorgang: Bildung des Carbonsäurechlorides, SO2 und Wasser aus Thionylchlorid und Carbonsäure. Überschüssiges Thionylchlorid fungiert als Lösungsmittel.
- Enthalpie: Reaktionsenthalpie ΔHR = + 321,6 kJ/Mol, d. h. die Reaktion ist endotherm, keine Erwärmung während des Mischens zu erwarten.
- Reaktion: Erwärmen zum Rückfluss. SO2 entweicht und muss über die Abluftreinigungsanlage (Wäscher) abgeleitet werden. Das Eindringen von Außenluft muss wegen des darin enthaltenen Wassers sorgfältig ausgeschlossen werden. Wegen der Hygroskopie des Schwefeldioxid dringt die Luftfeuchtigkeit auch gegen den Strom des durchgeleiteten Stickstoff in den Reaktionsbehälter ein, es muss mit einem Überdruckventil und Belüftung nur über das Stickstoffnetz gearbeitet werden.
- 2. Schritt: Feststellung des Umsatzes. Dies ist hier schwierig, weil wegen der Natur der Substanzen die üblichen DC- oder GC-Untersuchungen nicht möglich sind. Spezielle Ausrüstung für eine Inprozesskontrolle stand nicht zur Verfügung. Tatsächlich muss eine “Mini-Aufarbeitung” an einer unter Wasserausschluss genommenen Probe gemacht werden, d. h. Umsetzung mit Methanol und danach Feststellung des Verhältnisses von Dicarbonsäure zu Dicarbonsäuremethylester mit GC. Eine Probenentnahmestelle ist vorzusehen.
- 3. Schritt: Abdestillieren des Thionylchlorides. Dies darf nicht zu einer nicht mehr rührbaren Mischung führen. Die Menge des wiedergewonnenen Thionylchlorides schwankt. Ohne spezielle Prozessüberwachungstechnik (in einfachen Multi-purpose-Anlagen oft nicht vorhanden) kommt man daher an dieser Stelle nicht um die ständige Beaufsichtigung des Vorganges durch eine fachkundige Person herum.
- Endpunkt: Absinken der Kopftemperatur unter einen zu ermittelnden Wert. Hier müssen auf jeden Fall noch Versuche durchgeführt werden. Es ist notwendig, dass während mehrerer Durchführungen die Menge des anfallenden Thionylchlorides gegenüber der Kopftemperatur festzuhalten, und dies mit dem Punkt zu vergleichen, an welchem die Reaktionslösung – dem Augenschein nach – schwer rührbar wird.
- 4. Schritt: Solvolyse in Methanol. Diese Reaktion ist exotherm. Reaktionsenthalpie: (…)