… oder warum der Baum der Erkenntnis die schönsten Sumpfblüten treibt.
Gibt man „bizarre COVID treatments“ oder Ähnliches in die Suchmaschine ein, erhält man zu allererst Suchergebnisse aus Indien. Nicht, weil dort mehr seltsame und unwirksame Heilmittel in Umlauf wären als anderswo, sondern weil zu Beginn der Pandemie der Premierminister der Wissenschaft jedwede Rolle bei der Überwindung der Krankheit abgesprochen hat, und die Empörung darüber in den Medien recht lautstark ausgefallen ist.
Die Aussage klingt für die erbosten Teile der Bevölkerung so, als wolle die Regierung nicht einmal versuchen, etwas zu unternehmen. Während selbst Landesherren wie Boris Johnson, Donald Trump und Xi Jinping, allesamt nicht gerade Exponenten der wissenschaftlichen Rationalität, führende Forschungslaboratorien ihrer Länder besuchten, unterließ Narendra Mori es sogar, vor den häufigsten irrigen Vorstellungen rund um COVID-19 zu warnen. Kein Wort davon, dass Vegetarier sich genauso häufig mit dem Coronavirus infizieren wie Omnivore. Kein Wort davon, dass Rinderurin nicht schützt, nicht einmal der von original indischen Kühen (wie Kuh-Urin anzuwenden ist, kann man auf diesem Bild von einer Kuh-Urin-Party erkennen). Auch nicht davon, dass Sonnenlicht und das gebildete Vitamin D, oder ein bestimmtes traditionelles Fladenbrot, oder eine Einreibung mit Kuhdung keinen Schutz bieten.
Mensch ist überall Mensch…
Nicht nur in Indien, auch anderswo, auch in Ländern der westlichen Welt haben sich nicht alle Politiker mit Ruhm bekleckert, was Wissenschaftskommunikation angeht. Mitglieder der Regierungen haben als Vorbeugungs- und Heilmittel gegen das Virus empfohlen:
- Die katholische Kommunion, denn im Leibe Christi kann sich das Virus nicht vermehren (Tanzania)
- Fasten (Brasilien)
- Wodka (Weißrussland) – und nein, Alkohol schwächt das Immunsystem bereits in kleinen Mengen
- und Chloroquin, ein Malariamittel (USA).
- In Kaschmir sollten zehn Millionen Pappeln gefällt werden, weil ihre Pollen angeblich das Virus transportieren können, oder auch nur, weil sie durch ihre allergene Wirkung zum Niesen führen und dadurch zur Ausbreitung des Virus führen könnten (Artikel 1; Artikel 2).
… oben wie unten.
Man braucht keine prominente Führungspersönlichkeit zu sein, um mehr oder weniger pseudowissenschaftlichen Blödsinn zu verbreiten. Das gelingt jedem von uns.
- In gewissen chinesischen Netzwerken wurde berichtet, dass Gurgeln mit Salzwasser die Viren beseitigt. Dann wurde die Aussage auch noch dem prominenten Pulmonologen (Facharzt für Lungenheilkunde) Zhong Nanshan angehängt. Sein Team musste eine Widerlegung publizieren: Das Virus setzt sich tief in den Atemwegen ab, also dort, wo man typischerweise nicht mit der Gurgellösung hinkommt.
- Hierzulande ist der Mythos, dass das 5G-Netz, und nicht ein Virus, die Symptome auslöse, einigermaßen verbreitet. Vielleicht bekommt man über das 5G-Netz einen Computervirus – aber den hätte man sich mit 4G auch schon einfangen können.
Die WHO bemüht sich auf ihrer Seite, COVID-19-Mythen wie die folgenden klarzustellen:
- Dass etwa Alkohol, Chlorbleiche, Methanol, Knoblauch, Pfeffer, Nasenspülungen etc. als Vorbeugung taugen würden. Beim Versuch, sich durch das Trinken von Selbstgebranntem oder Industriesprit vor dem Coronavirus zu schützen, sind im Iran mehrere hundert Menschen zu Tode gekommen.
- Dass Insekten das Virus übertragen könnten – nein, tun sie nicht. Insekten sind in diesem Fall keine Zwischenwirte.
- Dass Händetrockner, UV-Lampen, Thermoscanner, Sonnenlicht, Wärme, Kälte, Sonnenlicht oder Schnee dem Virus den Garaus machen würden.
- Dass junge Leute oder solche, die zehn Sekunden oder länger die Luft anhalten könnten, sicher wären.
- Dass Antibiotika oder das Blut genesener COVID-Patienten ein Heilmittel wären. Erstere wirken nur gegen Bakterien, nicht gegen Viren, und letzteres konnte man angeblich im Darknet kaufen.
Profiteure der Panik
In einer Situation wie der augenblicklichen muss man niemals lange warten, bis die Quacksalber mit ihren wirkungslosen Heilmitteln auf der Bühne erscheinen. Wer jetzt kein „Schlangenöl“ verkaufen kann, sollte sich besser eine andere Betrugsmasche ausdenken.
• Hierzulande stolpert man öfter über kolloidales Silber, ein gutes Beispiel für die Tatsache, dass nicht alles, was plausibel klingt, auch richtig sein muss.
Ein Kolloid ist eine Suspension von festen Teilchen, die so klein sind, dass sie nicht zu Boden sinken. In diesem Fall sind die Teilchen aus metallischem Silber. Das Kolloid hat durchaus eine bakterientötende Wirkung auf Oberflächen und wird z. B. verwendet, um großflächige Verbrennungen der Haut vor Sekundärinfektionen zu schützen. Äußerlich. Wenn man es einnimmt, entwickelt man höchstens eine Argyrie, eine intensive, nicht mehr rückgängig zu machende Blaugraufärbung der Haut.
Weitere Artikel über Kolloidales Silber: In der Pharmazeutischen Zeitung, und auf Medizin Transparent.
• Joseph Mercola, Osteopath und Geschäftsmann, schloss aus der Tatsache, dass man gewisse Oberflächen mit Wasserstoffperoxid desinfizieren kann, dass das auch bei den menschlichen Atemwegen geht. Nein, 3% H2O2 in den Raumluftbefeuchter wird eine Ansteckung mit dem Coronavirus nicht verhindern. Man wird sich lediglich angesichts der massiven Reizung der Atemwege so fühlen, als hätte man es erwischt. Als osteopathischer Geschäftsmann, oder geschäftemachender Osteopath, muss man sich aber gelegentlich etwas Neues einfallen lassen.
• Im Dark Web wird eine Impfung gegen COVID-19 verkauft. Die Injektionslösung enthält – aufgepasst! – Kokain, Amphetamine und Nikotin. Gefühlt wirkt sie wahrscheinlich durchaus… nur nicht gegen eine Vireninfektion.
Warum denken wir so irrational?
Das Irrationale
„Irrational“, also unvernünftig, sind Sachverhalte, die entweder der menschlichen Vernunft widersprechen oder sich dieser entziehen (Wikipedia). Das Irrationale ist nicht so einfach zu definieren wie man denkt und nicht vollkommen negativ besetzt.
Im Zusammenhang dieses Artikels möchte ich als „irrational“ dasjenige bezeichnen, das beobachtbaren Fakten und dem wissenschaftlichen Konsens, soweit er dem Jeweiligen zugänglich ist, widerspricht. Zum Beispiel: Die Annahme, dass ein Desinfektionsmittel wie Chlorbleichlauge gegen Infektionen hilft, wenn man es einnimmt, mag irrational für diejenigen sein, die Gelegenheit haben, es besser zu wissen, aber nicht irrational für jemanden, dem die grundsätzlichen Informationen nicht zugänglich sind.
Betrachten wir unsere extrem privilegierte Situation in den westlichen Gesellschaften, wo uns von der Stadtbücherei über Online-Fachartikel anerkannter Fachleute bis hin zu einem Gasthörerschein an der Hochschule alles zur Verfügung steht, ist jedwedes Beharren auf einer widerlegbaren Meinung irrational und hat eine von zwei Ursachen:
1.) Denkfaulheit – und ja, wir können einfach nicht alles, was wir hören und lesen, kritisch überprüfen, selbst wenn wir drei Köpfe hätten (wir sollten es aber überprüfen, ehe wir es per Klick weiterverteilen!). Nennen wir es also „neuronales Energiesparen“.
2.) Die irrationale Meinung hat einen Vorteil für uns: Sie gibt uns das Gefühl von Geborgenheit, Überlegenheit oder rechtfertigt die Fortsetzung eines Verhaltens, welches wir eigentlich abstellen sollten. Etwa den überreichlichen Wodkakonsum. Der ausgezeichnete (und lesbare) Artikel „COVID-19: Fear, quackery, false representations and the law“ von Ian Freckelton gibt einen ausgezeichneten Einstieg in die Frage.
In der augenblicklichen Situation…
… müssen wir mit Angst und Unsicherheit klarkommen, müssen monatelang auf Antworten warten und uns in der Zwischenzeit an das Wenige halten, das sicher zu sein scheint, von dem sich aber einiges als falsch erweisen wird. Zusätzlich vereinsamen wir durch die Notwendigkeit zum Abstandhalten.
Diese Gefühle können nicht alle Menschen aushalten. Eine definitive Antwort, ein Gefühl von Sicherheit müssen her, und zwar sofort. Diese anfällige Gruppe ist fette Beute für eine gewisse Art von räuberische „Unternehmern“: Den Wunderheilern, den Quacksalbern und den Besitzern „verborgener Wahrheiten“ (sprich den Verbreitern von Verschwörungserzählungen).
Auch individuelle Schreckensszenarien – Krebserkrankung, kriminell gewordene Kinder, Jobverlust, Konflikte mit Behörden wie dem Finanzamt – können diese Reaktion hervorrufen und emotional anfällige Menschen zu Kunden von Scharlatanen machen. Eine Pandemie bringt aber den zusätzlichen Faktor, dass man sich nunmehr um seine Mitmenschen ängstigen – und sich vor ihnen fürchten muss, weil jeder von ihnen einem selbst den Tod bringen kann.
Zusätzlich stärkt die soziale Isolation nicht gerade die Rationalität. Man nimmt die Realität anders wahr, erinnert sich an Zufälle und Scheinzusammenhänge, die man ansonsten ignoriert hätte. Auch im Mittelalter gab es rückblickend vor einem neuen Auftreten der Pest stets reichlich Vorzeichen – Wetterphänomene, Missgeburten, Weissagungen, eben das vollständige Affentheater.
Sollen die Leute doch glauben, was sie wollen?
Ein Krebskranker, der versucht, seine Metastasen mit Globuli zu heilen, wird nur sich selbst umbringen. Wer in einer Pandemie an falsche Schutzmittel glaubt, wird sich rücksichtslos verhalten und damit andere in Gefahr bringen.
Sündenböcke
Auch die Suche nach Sündenböcken ist ein fester Teil der „Krisenspiele“: Christenverfolgung während der Antoninischen Pest, Judenverfolgung während der Pestepidemien im Mittelalter, Verhaftung aller japanischstämmigen Amerikaner und ihre Unterbringung in Konzentrationslagern nach Pearl Harbour. 2020 bekammen chinesische Firmen und auch einzelne Leute, die entfernt so aussahen, als könnten sie aus China sein, Diskriminierung, Hass und Boykotte zu spüren. Andere Sündenböcke sind diffuserer Art: 5G-Anbieter, wie immer die Pharmaindustrie, und auf QAnon möchte ich gar nicht näher eingehen. Das hat unter anderem das ZDF schon getan.
Historische Heilmittel
• Der Karbolsäureball wurde während der „Russischen Grippe“ (1889 – 1892) verkauft: Gepulvertes Phenol (welches als medizinisches Desinfektionsmittel zu jener Zeit verbreitet war) war in einer Art Gummi-Klistierbällchen enthalten, einem hohlen Gummiball mit einer langen Spitze, mit welcher man sich eine Wolke dieser ätzenden, giftigen Substanz in die Nasenlöcher pusten konnte. (Und nein, es funktioniert nicht – es sei denn, das Ziel der Behandlung ist die komplette Verätzung der Nase von innen).
• Die „Spanische Grippe“ (1918 – 1920) sah unter anderem eine künstlich verstärkte Anfrage nach Wick VapoRub. Außerdem natürlich Alkohol – Rosskuren mit bis zu 14 Glas unverdünntem Gin, so schnell wie möglich hintereinander getrunken. Überlebte der Patient nicht, starb er schnell, und überlebte er, konnte er sich hinterher an nichts mehr erinnern. Ärzte warnten vor den durchweg schädlichen Wirkungen von Alkohol bei Virusgrippe, wurden aber – wen wundert’s – ignoriert.
• SARS (2003) sah ein Wiederaufblühen magischer Rituale: Zauberer wurden angeheuert, Feuerwerk abgebrannt, Falschgeld verbrannt, um die Infektion auf übernatürlichem Wege zu besiegen. Es gab sogar ein Gerücht, nach welchem ein Wunderkind, das angeblich von Geburt an die Gabe der Rede besaß, prophezeit hätte, dass grüne Bohnensuppe Infektionen vorbeugen würde. Die Folge waren Hamsterkäufe von Mungobohnen.
Unbedingt noch lesenswert:
- Mythen rund um Herdenimmunität, Impfungen, die Profiteure der Pandemie, Masken und Biowaffenlabore in China, zusammengetragen von Scientific American.
- Das Schweizer-Käse-Modell für die Verkettung von Unfallursachen mit der besonderen COVID-Variante. Man beachte die Maus, die die Löcher vergrößert – die Maus steht für Fehlinformationen.
Walter Gekeler meint
Klasse! Balsam auf meine geschundene Seele. Ich sag immer schon, das Problem ist nicht das Virus, das Problem sind die Menschen. Vielleicht löst sich das Problem ja mal … Wir sollten uns nicht so wichtig und einzigartig nehmen. Aber es trifft wohl wie immer die Falschen.
Die Irrationalität ist ein interessanter Teilaspekt, der sich durch alle Bereiche der Pandemie zieht. Wenn schon die Maßnahmen so irrational sind, so widersprüchlich und unverständlich, dass selbst Menschen mit noch gesundem Verstand daran verzweifeln, dann braucht man sich nicht wundern, wenn die Sicherungen bei weniger stabilen Individuen durchknallen.