Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden. Die meisten Menschen meinen, sie seien in der Lage, Bullshit zu erkennen und sich vor ihm zu schützen, weshalb dieses Phänomen bislang wenig ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden hat und nur unzulänglich erforscht worden ist. […] Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen.
Aus „Bullshit„, von Harry G. Frankfurt, übersetzt von Michael Bischoff
Bullshit – das ist das Besondere daran – ist nicht einfach eine nach bestem Wissen und Gewissen getroffene, aber aus Unkenntnis falsche Aussage. Bullshit ist auch keine bewusste Lüge – um zu lügen, muss der Lügner die Wahrheit kennen. Bullshit ist eine Aussage, die getroffen wird, um die Umstände nach eigenem Wunsch zu manipulieren, wobei dem Bullshitter völlig gleichgültig ist, was die Wahrheit eigentlich ist.
In dem ausgezeichneten Podcast „Stuff to Blow Your Mind“ benutzen Robert Lamb und Joe McCormick in ähnlichem Zusammenhang eine Tiger-Analogie: Eine Gruppe Menschen lebt in einer Steppe, nahebei ist ein Wald. Man glaubt, in dem Wald könnte es Tiger geben, und geht nicht hinein. Im Wald gibt es aber auch Honig und Früchte, also möchten die Menschen hineingehen. Der Unwissende, Ängstliche könnte nun sagen: „Da drin gibt es bestimmt Tiger, also ich gehe nicht in den Wald.“ Der Lügner (der die Tiger schon gesehen hat) sagt: „Nein, es gibt keine Tiger im Wald. Geht nur hinein und pflückt. Ich habe mir heute den Knöchel verstaucht.“ Der Bullshitter (der als allwissend angesehen werden möchte) sagt: „Wegen der grundlegenden genetischen Inkompatibilität menschlicher und Tiger-DNS könnte ein Tiger menschliches Gewebe nicht assimilieren. Wenn es dort also Tiger gibt, reißen sie keine Menschen.“
Kommt Ihnen das bekannt vor? Hier können Sie den Originalaufsatz von Harry. G. Frankfurt auf englisch herunterladen, und hier einen erklärenden Artikel auf Deutsch aus dem Hohe Luft-Magazin. Und wenn Sie keine Lust zum Lesen haben, hat PLONQUEZ alias Lars Eric Paulsen den Begriff in einem kurzen Video erklärt.
Fake News: Bullshit des 21. Jahrhunderts?
Wenn eine Nation erwartet, zugleich unwissend und sicher in ihrem zivilisierten Stand zu sein, dann erwartet sie etwas, das es nie gegeben hat und niemals geben wird. Ohne Information gibt es keine Sicherheit für Menschen.
Thomas Jefferson, 1816
Das Video „Fake News: Definitions and Examples“ zeigt Beispiele für Fake News und welchen zerstörerischen Einfluss sie weit über die punktuelle Fehlinformation hinaus haben.
Dabei fragt man sich, wie man in dieser postfaktischen Gesellschaft landen konnte. Ist es wirklich der Informationsüberfluss, der uns alle unwillig macht, uns mit Fakten zu befassen? Oder ist einfach die gesellschaftliche Akzeptanz gestiegen, mit dem „Bauch“ statt mit dem „Hirn“ zu denken?
Postfaktisches Denken
Wenn die Steppenmenschen aus unserer Tiger-Analogie ebenfalls in einer postfaktischen Gesellschaft leben würden, könnte sich die folgende Szene abgespielt haben, Variante A:
Steppenmensch 1, noch einigermaßen sachlich eingestellt: „Also hört mal, wir haben einen ganzen Monat lang Tag und Nacht den Wald beobachtet und keine einzige Sichtung eines Tigers gehabt. Tiger sind wenn, dann nur sehr selten anzutreffen. Mit der entsprechenden Vorsicht können wir den Wald betreten und innerhalb einer Stunde so viele Kalorien herausholen wie auf der Steppe in vierzehn Tagen.“ Steppenmensch 2, postfaktisch: „So ein Unsinn! Tiger sind gefährlich. Es ist gewissenlos, hineinzugehen und andere in Gefahr zu bringen.“
Variante B, Steppenmensch 1: „In dem einen Monat, in welchem wir den Wald beobachtet haben, sind genau zehn Tiger gesehen worden, also im Schnitt alle drei Tage einer. Wenn wir den Wald betreten, ist die Chance, einen unserer Jäger zu verlieren, etwa 1:3. Wir können uns auch in der Steppe ernähren, aber nicht, wenn die Zahl unserer Jäger dezimiert wird.“ Steppenmensch B: „So ein Feigling! Der mag wahrscheinlich nur Fleisch und kein Obst. Stellt euch nur vor, was es im Wald alles zu holen gibt – läuft euch nicht das Wasser im Munde zusammen?“
Noch mehr Beispiele
Das Video über Fake News ist übrigens Teil einer ganzen Serie über Bullshit. Die Videos und die Seite „Calling Bullshit“ wurde von zwei Professoren der Universität Washington verfasst, die Bedarf für entsprechende Aufklärungsarbeit sehen. Die Seite bietet auch eine Liste mit absolut lesenswerten, wenn auch nicht ganz einfachen Fallstudien . Einige andere Beispiele:
- Die RWI Essen veröffentlich regelmäßig ihre „Unstatistik des Monats„, in der Statistiken und was die Medien daraus gemacht haben präsentiert wird.
- Auch Elon Musk und Steve Jobs sind/waren nicht darüber erhaben, die Fakten etwas anders darzustellen, wenn es hilft, den gewünschten Eindruck zu erzielen. Schließlich muss man ja die Aktionäre bei Laune halten, oder?
- Besonders häufig trifft man Bullshit in der Heilkunde an (nennen wir es einmal so): Homöopathie, Veganismus, Akupunktur, längst widerlegt, steigen doch immer wieder aus ihren Gräbern. Ich höre schon das Geschrei „Wer heilt, hat recht“ – aber ist das wirklich so?
- Quantenmystik á la Deepak Chopra, stolzer Träger des IgNobel-Preises für Physik von 1998, für die unauflösliche Vermauschelung makroskopischer und quantenmechanischer Vorgänge. „Quantenmystik“ ist die unzulässige Übertragung von Beobachtungen aus dem subatomaren Bereich (in welchem es Quanteneffekte gibt) auf den Alltag. Wenn zum Beispiel ein Elektron durch einen Potentialwall „tunneln“ kann, dann kann folglich auch ich durch die Barriere tunneln, welche mich von besseren Zuständen fernhält, abends krank und pleite ins Bett gehen, um morgens gesund und als Millionär aufzuwachen – vorausgesetzt, ich versetze mich in den richtigen metaphysischen Bewusstseinszustand.
- Investment Bullshit – eine Kategorie von Humbug, die den erwachsenen menschen besonders schmerzhaft an seiner Erziehungsfläche (der Brieftasche) trifft. Schon 2013 beklagte das New York Magazine, die Zeiten des Investment-Bullshits seien zurück. Man muss aber nicht einmal so haarsträubende Beispiele wie Aktienanteile an einem einzelnen Footballspieler, „Motif Investments“ (das Zusammenstellen einer Gruppe von Aktien basierend z. B. darauf, wie viele Likes die Firma auf Facebook hat) oder (seien wir ehrlich) Kryptowährungen anführen. Schon die Tatsache, dass niemand einen ausreichend großen, allgemein zugänglichen Markt auf Dauer übertreffen kann (hier ganz gut erklärt, oder in Büchern wie „Geld denkt nicht„), macht fast alle gemanagten Fonds zu Investment-Bullshit <DUCKUNDWEG>.
- Das E-Meter von Scientology: Vor Jahren bekam ich an einem Stand dieses Gerät einmal zu sehen und musste an das „Elohimeter“ aus Philipp José Farmers „Die Liebenden“ denken. Ich wollte das Ding nicht einmal mit Handschuhen anfassen, wer weiß, was für Kurse zum „Clear“-werden man mir versucht hätte aufzuschwatzen. Das E-Meter ist nicht einmal ein mieser Lügendetektor – und schon der ist kaum wissenschaftlich. Oder?
Mein unbestrittener Lieblings-Bullshit ist nach wie vor Grander Wasser – aber darüber habe ich schon einmal gelästert geschrieben.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten, ein erfolgreiches 2019 und hoffentlich baldiges Wieder-Lesen.
Ihre
Schreibe einen Kommentar