Was sollen Chemtrails eigentlich sein?
Für alle, die die letzten zehn Jahre in einer Kiste zugebracht haben: „Chemtrails“ sind die Spuren, die Flugzeuge am Himmel hinterlassen und die nicht nur banal aus verbranntem Kerosin, also gefrorenem Wasserdampf (sichtbar) und CO2 (unsichtbar) bestehen, sondern auch mit Absicht versprühte Chemikalien enthalten sollen. Je nachdem, wen man fragt, sollen diese
- das Wetter manipulieren (wäre ja manchmal nicht schlecht…)
- die Fortpflanzung der Menschen bremsen (scheint aber nicht zu funktionieren)
- den Klimawandel umdrehen
- uns alle krank machen (und die Fast-Food-Ketten und Limonadenhersteller werden arbeitslos? Gehören die denn nicht zum geheimen Weltkartell?)
- uns am selbstständigen Denken hindern (als ob es dazu Chemtrails bräuchte! „Scharfes Nachdenken ist schmerzhaft, der vernünftige Mensch vermeidet es, wo er kann“ wusste schon Bertolt Brecht)
- dienen aber wahrscheinlich unbekannten, hinterhältigen Zwecken einer jüdisch-marxistischen oder aber hermetischen Geheimgesellschaft reptiloider Aliens, die allesamt in den Vorständen der Großbanken und in der Politik zu finden sind.
Wer sagt uns die „Wahrheit“?
Als Beispiel für die Arbeit der mutigen Chemtrails-Whistleblower dient etwa der „Chemtrail-Song“. Wenn Sie sich leicht fremdschämen, dann schauen Sie besser nicht hin. An diesem Machwerk ist absolut alles – das Video, die Musik, der Text und sogar die paar gefälschten Kommentare auf Youtube – banal, amateurhaft und unsäglich peinlich.
Oder ist es Satire? Auch nach genauem Hinsehen weiß ich es nicht. Die Aluhüte am Anfang, die wiederkehrenden Bildern von Krähen, die mit faustgroßen Geschwüren aus dem Himmel stürzen und einiges mehr scheinen darauf hinzudeuten, aber die Frage bleibt ungelöst.
Auch die Heute Show versucht sich an dem Thema: „Deutschland, deine Irren“.
Man beachte vor allem die Äußerung bei 1:45 min, die einen beinahe überzeugenden Zweck für Chemtrails anführt: Wie jeder weiß, wird die Luft mit zunehmender Höhe immer dünner. Während sie in Bodennähe noch ein Flugzeug heben kann, weil sie unter die Flächen drückt, brauchen die Flugzeuge in großer Höhe die Chemtrails als Schwebekissen. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Kondensstreifen zu etwas anderem dienen als zum Fliegen an sich, ob nun als Schwebekissen oder Abfallprodukt. Wo bleibt da die Verschwörung?
Auch bei diesem Clip bezweifle ich, dass alles echt ist. Manch einer stellt sich für ein paar Sekunden im Fernsehen vielleicht freiwillig als Narr dar.
Mancher hat Chemtrails nötig – aber warum?
Mir fällt es persönlich schwer, an eine Verschwörung zu glauben, bei der gar so viele mitmachen, und das angeblich schon seit Jahrhunderten. Es gibt einige wissenschaftliche Untersuchungen über die psychischen Vorgänge in Menschen, die zu Verschwörungstheorien neigen. Der Journalist Rayk Anders versucht sich in seinem Film „Verschwörungstheorien – Leben im Wahn“ an einer Erklärung und interviewt z. B. die prominente Anti-Chemtrail-Aktivistin Ria den Breejen, ihres Zeichens Kunstmalerin und Trägerin der Goldenen Aluhutes 2015.
Auf die Frage, wie sie dazu gekommen sei, sich mit Chemtrails zu befassen, sagt Frau den Breejen unter anderem:
„Und dann habe ich mich einfach drei Tage auf den Balkon gesetzt und mit dem Fernglas nach oben geguckt, was sich da tut… Und dann habe ich da auch ganz schnell erkannt, dass da was dran ist, also die haben da Gitter – Tic-tac-toe-Muster – Schachbretter gezogen bis zum Geht-nicht-mehr… […] Man kann auf jeden Fall sagen, dass das Militär die hauptsächlich versprüht, um Krieg mit dem Wetter zu führen. Das ist also bekannt, das ist kein Geheimnis, […] wer das Wetter kontrolliert, der kontrolliert so ziemlich alles.“
Wer das Wetter kontrolliert, kontrolliert auf jeden Fall ziemlich vieles. Aber was, wenn die Gegenseite dann nachzieht und ebenfalls das Wetter kontrolliert? Und sich aufstrebende kleine Staaten dann auch an der Kontrolle des Wetters versuchten? Und im Gegensatz zu Atomwaffen wüsste keiner etwas davon (außer natürlich einer erleuchteten Minderheit)?
Kann man das Wetter denn kontrollieren?
Versuche dazu gibt es schon seit Jahrzehnten, insbesondere in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Ansatz etwas intensiver verfolgt. Man versuchte etwa, Wolken auf Befehl abregnen zu lassen. Ein Skript des Fachbereiches Geohydraulik und Ingenieurhydrologie beschreibt die Mechanismen der Regenentstehung. Um den Vorgang zu erzwingen, hat man mit Flugzeugen z. B. fein verteiltes Trockeneis oder bestimmte Salze wie Silberiodid in die Wolken gesprüht. Beispiele sind der Fon Luang, der „Königliche Regen“ in Thailand oder die Manipulationen, mit denen die chinesische Staatsregierung vor den Olympischen Spielen für blauen Himmel über der Hauptstadt gesorgt haben soll. „Soll“ sage ich mit Absicht, denn die Datenlage ist auffallend dünn für diese Ereignisse, noch weniger nachzuvollziehen als bei den meisten anderen Internet-Zeitungsartikeln.
Dies sind aber immer kleinräumige Wettermanipulationen, beschränkt auf Gebiete mit wenigen Kilometern Durchmesser. Ganz anders stellt sich die Frage, wenn echtes Geoengineering, also die Manipulation an der Erde und ihrem Klimasystem als Ganzes, betrieben werden soll. Florian Freistätter diskutiert in einem Beitrag des Wissenschafts-Blogs Astrodicticum Simplex die Möglichkeiten, die Polkappen der Erde zu vergrößern, um die globale Erwärmung aufzuhalten. Sein Fazit: Wir haben nur eine vage Vorstellung davon, wie das zu machen wäre, und wissen noch weniger genau, was die Folgen an welchen Orten wären.
Argumente ziehen leider nicht…
Was auf Webseiten (z. B. chemtrail.de) immer wieder auffällt, ist das Wahnhafte der Argumentation. Paul Watzlawik hat das sehr schön und einfach in seinem klassischen Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschrieben: Ein Mann glaubt, man rede hinter seinem Rücken über ihn. Alles, was diese Meinung bestätigt – etwa Gespräche, die plötzlich aussetzen und dann wieder anfangen, wenn er den Raum betritt, Leute, die sich von ihm abwenden etc. – ist prominent in seinem Bewusstsein präsent, alle dagegen sprechenden Indizien fallen durch den sogenannten“Bestätigungsfehler“ (confirmation bias) unter den Tisch. Und wenn jemand ihm versichert, niemand würde heimlich über ihn lästern, dann gehört diese Person eben auch zu den Lästerern.
So bietet die Seite „GeoEngineeringWatch“ eine ausführliche Liste von Patenten an, die beweisen sollen, dass sich Nationen und Firmen mit den Möglichkeiten der Wettermanipulation beschäftigen. Ich habe die Patente nur stichprobenartig nachgeprüft, aber es handelt sich anscheinend um nichts weiter als das, was da genannt wird: Patente für Sprühvorrichtungen für Flugzeuge (z. B. für Pestizide), für die Erzeugung von künstlichem Nebel (das war eine Idee, die im 1. Weltkrieg sehr verfolgt wurde, um den Gegner zu desorientieren), Dampferzeuger und, ja, auch für die Möglichkeit, Niederschläge zu induzieren oder umzuleiten. Dies beweist noch lange nicht, dass es eine Verschwörung gibt, deren Ziel es ist, die Menschheit mit Chemtrails einzunebeln – es sei denn, man glaubt sowieso daran.
Und was ist tatsächlich in Kondensstreifen drin?
Die Hauptmasse der „Schnurwolken“ ist Eis, das aus der Verbrennung von Kerosin bei den ca. – 50 °C in Flughöhe entsteht. Laut Prof. Blumes Bildungsserver für Chemie sind die Emissionen von Wasserdampf SO3-haltig, denn Kerosin enthält Schwefel und ein Flugzeugtriebwerk hat keinerlei Abgasreinigung. Manche Kerosinsorten haben zwar Additive gegen die Bildung von Schwarzrauch, andere führen aber (wohl auch abhängig vom Triebwerk) zum massiven Ausstoß von Rußpartikeln. Diese und die Schwefelsäuretröpfchen, die aus dem SO3 und Wasserdampf entstehen, dienen als Kondensationskeime für die Feuchtigkeit in der Atmosphäre. Entsprechende klimatische Bedingungen vorausgesetzt, kann so der Kondensstreifen zu üppiger Pracht aufblühen und sich lange am Himmel halten, während ein anderer nach wenigen Minuten verflogen ist.
Falls Sie mir doch nicht glauben…
… werden Sie nach Möglichkeiten suchen, sich gegen die Auswirkungen von Chemtrails zu schützen. Vorschläge gibt es genug:
- chemtrails-info.de rät zu einer „allgemeinen Stärkung des Immunsystems“ (falls auch noch Bakterien oder Viren versprüht wurden, wovon bisher noch nicht die Rede war) durch Fasten, Einläufe, harmonische Beobachtung der Naturordnung und Beten, vor allem um Engelshilfe. Und bloß nicht impfen lassen, das macht alles nur noch schlimmer und bringt gar nichts.
- Zeolithe und belebtes Wasser – ich habe mich schon gefragt, wann das wohl kommt.
- Mit selbstgebastelten Chembustern, Orgoniten (jawohl – pyramidenförmig!), „Elementen Energie Wirbel“ (schon die grammatikalische Verwirrung dieses Begriffes… äh… verwirrt mich): Vor allem der Chembuster, eine etwa eineinhalb Stockwerke hohe Konstruktion aus Plastikeimer und Kupferrohren, zeigt im Freien aufgestellt ganz deutlich an, wer da wohnt. Und im Zweifelfalle kann man einfach Essig aufkochen. Diese liebenswerte, biologische Säure ist stärker als alle Chemie und schafft es, alle Aluminium- und Bariumsalze und all die Polymere und Fasern aus Chemtrails aufzulösen. Aber BITTE NICHT BEI MIR ZUHAUSE!
Alle Übrigen dürfen sich jetzt entspannen und das Weihnachtsfest genießen. Im nächsten Jahr geht es weiter mit Teil II des Beitrags zur Adsorptionshysterese sowie einigen Software-Tipps.
Frohe Weihnachten und einen gelungenen Rutsch ins nächste Jahr wünscht Ihnen
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